Prof. Dr. Edy Portmann
Förderprofessor der Schweizerischen Post
Universität Bern

 

In einem Zeitalter mit schier unendlicher Informationsflut wird die Fähigkeit Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden immer entscheidender. Die Idee kollektive Intelligenz zu nutzen ist nicht neu, aber sie gewinnt mehr an Bedeutung den je, auch im Zusammenhang mit den neusten Technologien.

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Im Jahr 1906 wurde auf der jährlichen Nutztiermesse in Plymouth ein Wettbewerb veranstaltet, bei dem die Besucher das Gewicht eines Ochsen schätzen sollten. Insgesamt 787 Personen machten mit und gaben einen Tipp ab. Zufällig stolperte der berühmte Universalforscher Sir Francis Galton über das Ereignis. Galton, der nicht nur als einer der Gründervater der experimentellen Psychologie, sondern auch der Eugenik und Rassenlehre gilt, ergriff die Gelegenheit beim Schopfe: Mit dem Ziel, die «Dummheit der Masse» zu beweisen, entschloss er sich zu einem Experiment – das in Hinblick auf das erwartete Ergebnis allerdings grandios scheiterte: Die statistische Auswertung ergab, dass der Mittelwert aller Schätzungen lediglich um 0.8% vom tatsächlichen Gewicht des Tiers abwich und dass die Masse damit sogar besser lag als Metzger, Viehzüchter und andere Fachleute.

Wisdom of Crowds?

Bis heute wird diese Anekdote immer wieder gern ins Feld geführt, wenn es um das emergente Phänomen der kollektiven Intelligenz geht. Auch James Surowiecki’s bekanntes Buch «The wisdom of crowds. Why the many are smarter than the few and how collective wisdom shapes business, economies, societies and nations» (2004) startet mit Galtons experimentellem Fehlschlag, um in die These von der «Weisheit der Masse» einzuführen. Doch was heißt das eigentlich, kollektive Intelligenz? Der Begriff bezeichnet gemeinsame, konsensbasierte Entscheidungs- und Problemlösungsprozesse innerhalb einer Gruppe. In der Tier- und Pflanzenwelt hat sich die Intelligenz der Masse seit jeher bewährt. Ein klassisches Beispiel ist der Bienenstaat. Eine einzelne Biene hat zwar ein sehr funktionelles Verhaltensrepertoire, das für sich genommen jedoch beschränkt ist. Im selbstorganisierten Kollektiv legen die Bienen jedoch Verhaltensmuster, Abläufe und Resultate an den Tag, welche ohne weiteres als «intelligent» bezeichnet werden können.

Kollektive Intelligenz

Nun stellt sich die Frage, ob dies auch für die Menschen zutrifft: Wie wird aus vielen guten Entscheidungen und Ideen Einzelner die Weisheit der Masse? Indizien, dass dies gelingen kann, kommen aus der Psychologie. In verschiedenen Studien konnte nachgewiesen werden, dass das kombinierte Gedächtnis zweier Menschen oder von Gruppen effizienter ist als das Gedächtnis des Einzelnen. Das Phänomen wird in der Psychologie «transaktives Gedächtnis» genannt. Kollektive Intelligenz funktioniert jedoch nur dann gut, wenn die einzelnen Personen zwar in Interaktion mit den anderen Mitgliedern ihrer Gruppe stehen, aber dennoch weiterhin eigene Entscheidungen treffen können. Eine allzu homogene Gruppenstruktur und Gruppenzwang kann sogar zu irrationalen Entscheidungen führen, mit z.T. fatalen Konsequenzen – man denke an die Lemminge. Im Fachjargon wird in diesem Zusammenhang häufig der Begriff «Groupthinking» oder «Herdentrieb»verwendet. Im Gegenzug lassen sich jedoch auch viele positive Beispiele von kollektiver Intelligenz finden. Ein Paradebespiel ist Wikipedia. Bei Wikipedia kann jeder via Internet ein Eintrag verfassen. Auch hier fungieren die Verfasser als ein Kollektiv. Verfasst beispielsweise jemand einen falschen Eintrag wird dieser Eintrag innerhalb kürzester Zeit von jemand anderem korrigiert. Weiss jemand mehr über ein Thema, so fügt er sein Wissen hinzu. Dieser iterative Prozess führt dazu, dass ganz «normale» Personen gemeinsam die grösste Online-Bibliothek der Welt erstellen und immer weiter verbessern.

Digitale Transformation

Das Beispiel Wikipedia zeigt auch noch etwas anderes, das dem Prozess der digitalen Transformation geschuldet ist, der gegenwärtig immer mehr Lebensbereiche erfasst: die Verknüpfung von menschlicher kollektiver Intelligenz mit ICT und Künstlicher Intelligenz. Der kanadische Lerntheoretiker George Siemens hat vor diesem Hintergrund das lern- und kognitionstheoretische Konzept des Konnektivismus entwickelt, das mittlerweile als zentrale Theorie für das Lernen im digitalen Zeitalter betrachtet wird. Konnektivismus beschreibt das Verbindungsglied, das aus der Summe der «Einzelintelligenzen» kollektive Intelligenz macht. Anders als in klassischen behaviouristischen und konstruktivistischen Lern- und Kognitionstheorien wird der Lernende nicht als «Einzelkämpfer» betrachtet, sondern als ein Bestandteil eines komplexen Wissensnetzwerks. Siemens führt dazu den Begriff des «Knoten» ein: Knoten sind Träger von Informationen; das können Person, Bibliotheken und Bücher, ausdrücklich aber auch digitale Informationsquellen sein. Die Verknüpfung der einzelnen Knoten zu einem Netzwerk ist essentiell, um uns Menschen mit relevanten Informationen versorgt. Im Zentrum konnektivistischen Lernens steht daher nicht nur die Aufnahme von Faktenwissen, sondern auch das Wissen, wo sich etwas finden lässt. Auf diese Weise ersetzt der Konnektivismus den Lernansatz des «Wissen wie» und des «Wissen was» durch ein «Wissen wo». Dieses «Meta-Lernen» wird in Zukunft genau so bedeutend sein wie das Lernen selbst sein. In unserer Informationsgesellschaft, mit ihren sich ständig ändernden Umweltbedingungen, wird die Fähigkeit immer wichtiger, bedeutsame von weniger relevanten Informationen unterscheiden zu können.


Mensch und Maschine

Für den Menschen ist es auf lange Sicht nahezu unmöglich, diesen Prozess ohne technische Unterstützung zu bewältigen. Daher wird der Mensch in Zukunft immer mehr auf die Unterstützung von Maschinen angewiesen sein, welche für ihn relevante von unwichtigen Informationen filtern, aufbereiten und zur Verfügung stellen. Demzufolge kann Lernen als ein Prozess der sozialen und technisch gestützten Vernetzung gesehen werden, beruhend auf dem soziotechnischen System, das Mensch und Maschine zu diesem Zweck eingehen. Wikipedia stellt hierbei eine relativ einfache Form der ICT-gestützten Vernetzung dar, insofern es sich hierbei vor allem um eine Plattform für Menschen handelt, die gemeinsam Wissen generieren. Deutlich komplexer ist die Suchmaschine Google, die in der Lage ist, aus Suchvorlieben der Nutzer Rückschlüsse auf deren Informationsbedarf zu schliessen. Weltweit arbeiten Forscher, Entwickler und Designer an der Entwicklung neuer, intelligenter Tools, welche die Menschen im täglichen Leben unterstützen sollen. Spracherkennungssysteme wie Siri, Google Now, Cortana und Samsungs S Voice, welche die Sprachsteuerung von electronic Devices oder das Diktieren eines Textes ermöglichen, sind bereits weit verbreitet. Das zunehmende Interesse an Künstlicher Intelligenz lässt bereits die nächste Stufe dieser Entwicklung schon erkennen:
kognitiv befähigte Computersysteme und ihre (menschenähnlichen) materiellen Repräsentationen, die wie Menschen lernen und sich in der Interaktion mit Menschen an deren Verhaltensmustern orientieren können. Wir blicken einer sich rasch wandelnden, neuen Welt entgegen. Schon jetzt ist absehbar, dass sie viele Überraschungen bereithält. Unser Alltag wird sich auf so vielfältige Art und Weise verändern, wie wir es uns zum jetzigen Zeitpunkt noch gar nicht vorstellen können. Es ist und wird auch in Zukunft spannend bleiben.