Der Anlass ‚Deep Learning‘ von ‚SwissCognitive‘ vom 30. November 2016 hat mir faszinierende, tiefe Einblicke in die Forschungs- und Anwendungsbereiche der künstlichen Intelligenz (KI) geboten. Die Vorstellung, dass Roboter unterschiedlichster Art unser künftiges Leben massgeblich beeinflussen werden, darf nicht a priori zu einer Vogel-Strauss-Haltung führen.
Bekanntlich ist Angst ein schlechter Berater. Dennoch ist es erlaubt, tiefgreifende Fragen zu stellen wie etwa: was nützt uns alle KI wenn wir gleichzeitig den gesunden Menschenverstand verlieren (oder bereits weitgehend verloren haben)?
Die Menschheit hat nämlich aus meinem Verständnis gesehen, ein kognitiv-evolutives Problem: wir sind über weite Strecken im Stadium des ‚Jägers und Sammlers‘ mit unserem Gehirn stecken geblieben. Wir haben den Quantensprung in die Moderne nicht geschafft. Die Industrialisierung und die fortschreitende Entwicklung einer Konsumgüterindustrie erfüllt unseren Drang nach jagen und sammeln geradezu auf perfekte Weise. Wir sind darin mental gefangen wie ein Hamster im Laufrad. Dabei braucht die Welt mit ihren endlichen Ressourcen eine andere neuronale Architektur, um mit den aktuellen Problemen wie dem Verlust der Biodiversität, der Verseuchung von Boden, Wasser und Luft oder dem Klimawandel fertig zu werden.
Gefragt wäre meines Erachtens ein ‚homo selectus‘, der primär wählen kann. Doch wir sind alle – einzeln wie im Kollektiv – zunehmend überfordert, wie jüngst Gabor Steingart in seinem Bestseller ‚Weltbeben‘ pointiert festgehalten hat. Doch wie ist es so weit gekommen? Wo liegen die Gründe und vielleicht auch die Auswege aus dieser evolutiven Sackgasse? Schon vor vielen Jahren bin ich – dank meiner Frau – über das Continuum-Konzept der Ethnologin Jean Liedloff gestossen. Ihr Buch ‚Auf der Suche nach dem verlorenen Glück‘ analysiert auf für mich überzeugende Art und Weise, wie die moderne Entwicklung (der Fortschritt allgemein) uns alle auf einen Irrweg geführt hat. Wie kann das sein?
Kurz erklärt: wir haben es als Menschen und Menschheit verlernt, die Erwartungen aus unserer jahrtausendealten Entstehungs- oder Ahnengeschichte (der sogenannten ‚Phylogenese‘) zu erfüllen und uns zunehmend wenn nicht ausschliesslich auf die Erfüllung unseres Individuallebens (der ‚Ontogenese‘) fokussiert. Dabei unterstützt uns jede neue Erfindung, die vermeintlich glücklich(er) macht und ausschliesslich konsumbasiert ist. Doch leider funktioniert dies nicht, da die Ahnengeschichte viel tiefer in uns verwurzelt ist und wir jede Enttäuschung als Einschnitt in den roten Faden unseres Lebens erleben und erleiden.
Warum haben Säuglinge einen Kralleffekt und können an einer Wäscheleine ‚aufgehängt‘ werden? Weil unsere Entwicklungsgeschichte dies als überlebenswichtig betrachtet hat. Wer wollte schon nach der Geburt wehrlos auf dem Boden liegen bleiben, statt ‚angekrallt‘ bei Mutter oder Vater? Welche Enttäuschung sind demnach die weissen Kinderbettchen aus den 60er Jahren im vermeintlich ‚ruhigen‘ Kinderzimmer, der Plastikschnuller, die vibrierende Waschmaschine als Wiege und die Schoppenflasche als Ersatz für die Brust? Man kann unendlich viele derartige Beispiele von unerfüllten Erwartungen aus der menschlichen Entwicklungsgeschichte aufzählen.
Natürlich gehören Veränderungen zu jeder Entwicklung. Doch die Geschwindigkeit derselben hat in der jüngeren Vergangenheit ein Ausmass angenommen, dass uns völlig aus dem Gleichgewicht geworfen hat. Die Welt droht aus ihrer geordneten Laufbahn zu geraten – politisch, sozial, ökologisch, ökonomisch. Und alle schauen überfordert zu oder machen munter weiter solange es ihrem Individualleben scheinbar zuträglich ist. Einige fragen sich, warum denn viele immer weniger glücklich, dafür umso mehr gestresst und krank sind, warum viele (Jugendliche) Selbstmord begehen oder vor Verzweiflung kriminell oder gewalttätig werden. Welche ein Wunder bei diesem ‚Fortschritt‘ – weg vom Normalen, hin zum ‚Verrückten‘.
Was früher noch als ‚randständig‘ in der mathematischen Normalverteilung von Gauss war, wird heute als ‚normal‘ erklärt, womit sich die noch verbleibende Mehrheit in der Mitte der Kurve verunsichert fühlt: Bin ich noch normal? Der Literaturnobelpreisträger George Berhard Shaw hat einmal gesagt: ‚Was wir brauchen, sind ein paar verrückte Leute; seht euch an, wohin uns die Normalen gebracht haben.‘ Ich wage es, dieses Zitat umzudrehen: ,Was wir brauchen sind mutige normale Leute (d.h. solche, die den gesunden Menschenverstand und bewährte soziale Werte wie Liebe, Solidarität und Toleranz noch in sich tragen); seht euch an, wohin uns die Verrückten geführt haben,.
Der Umgang mit KI ist eine riesige Herausforderung für die Menschheit, falls sie dazu helfen kann, unseren kognitiven Rückstand aufzuholen oder zu überwinden, kann sie der Menschheit zuträglich sein, andernfalls drohen wir weiter uns rasant und fatal in die falsche Richtung zu entwickeln. Die knallharte Selektion gemäss Darwin wird dann den Rest übernehmen …
Daniel Maselli, 1. Dezember 2016